Engel gehen nicht verloren
Tannenzweige wollen Pia und Pit heute im Wald mit Opa und Großtante Luise holen. Und die alte Bergkapelle wollen sie besuchen und dort nach einem kleinen Engel aus Stein Ausschau halten. Irgendwo nahe bei der Kapelle hat vor vielen Jahren Großtante Luises Vater, der Opas Onkel Hans war, diesem kleinen Engel seinen neuen Platz gegeben. Einen Platz, an dem er den Kapellenbesuchern Glück bringen möge. Genau so viel Glück - oder mehr -, wie er es ihm gebracht hatte. Nur auf einem Foto haben Pia und Pit diesen Engel gesehen und auch Opa und die Großtante haben viele Jahre nicht mehr an ihn gedacht. Als neulich Großtante Luise ihn endlich einmal wieder besuchen wollte, hat sie ihn nicht wiederfinden können.
„Wir müssen ihn suchen“, hat Opa vorgeschlagen. „Engel gehen nicht verloren.“
„Und wir werden ihn auch finden“, hat Pit mit fester Stimme gesagt.
Da hat Großtante Luise wieder gelächelt. Ein bisschen zumindest.
Und nun sind sie unterwegs zur alten Kapelle - und zu dem vermissten Engel.
Der Weg führt durch einen Tannenwald und ist von samtweichen Nadeln und Tannenzapfen bedeckt. Er ist steil. So steil, dass Pia und Pit, die vorausgelaufen sind, anhalten und nach Luft ringen.
„Diesen Weg nennen die Leute auch Himmelsleiter“, erzählt Opa. „Weil man meinen könnte, er führte direkt in den Himmel.“
„Dann gehe ich diesen supersteilen Weg aber gerne“, ruft Pit. „Einen Weg in den Himmel kennt nicht jeder.“
„Und wenn wir den Engel wiederfinden“, sagt Pia, „geben wir dem Weg einen neuen Namen.“
„Und welchen?“, fragt die Großtante.
„Ist doch klar“, sagt Pia. „Dann heißt er ‚Engelsleiter‘.“
„Das klingt hübsch.“ Großtante Luise nickt. „Vielleicht führt uns die ‚Engelsleiter‘ ja doch zu unserem verlorenen kleinen Engel. Wundervoll wäre das!“
„Ja, wundervoll“, bestätigt Opa. „Beeilen wir uns!“
Und das tun sie auch.
Es ist anstrengend, sich auf einem so steilen Weg zu beeilen und die Vier sind mächtig aus der Puste, als sie sich dem Bergkamm nähern.
Der ragt weiß vor ihnen auf. Schneeweiß.
„Schnee!“, ruft Pia. „Juchhu!“
„Wow! Der erste Schnee in diesem Winter!“, staunt Pit. „Das ist cool.“
„Der Engel bringt uns Glück“, freut sich Pia.
Dann beeilen sich die Beiden, um ganz schnell nach oben in die weiße Winterwaldwelt zu kommen. Die zarte Schneekruste knirscht unter ihren Füßen, und das fühlt sich richtig weihnachtlich an.
„Hey, ihr Zwei!“, ruft Opa und lacht. „Ein alter Mann ist doch kein D-Zug.“
„Eine alte Großtante auch nicht“, japst die Großtante und sie lacht auch.
Es ist nicht mehr weit bis zur Kapelle. Die Spitze des Kapellentürmchens mit dem silbernen Kreuz und die Tannen, die es umsäumen, sind schon zu sehen.
Mit schnellen Schritten eilen die vier Engelssucher weiter. Endlich haben sie die kleine alte Kapelle mit den verwitterten Buntsandsteinen und dem puderweißen Dach erreicht.
„Schön ist es hier!“, staunt Pia.
„Wie in einem Weihnachtsmärchen“, sagt Pit. „Würde mich nicht wundern, wenn wir hier das Christkind oder kleine Weihnachtsgeister treffen würden.“
„Und Engel“, ruft Pia schnell. „Weihnachtsengel.“
„Und vor allem unseren kleinen Engel aus Stein“, ergänzt die Großtante.
„Den vor allem“, sagt Opa. „Machen wir uns auf die Suche! Wenn ich mich richtig erinnere, hat Onkel Hans den Engel am Hang vor der Kapelle aufgestellt. ‚Damit er hinunter zu den Menschen im Tal blicken kann‘ , so hat er es mir erklärt. Und genau dort müssen wir suchen.“
„Das ist aber schwer, hier einen Engel zu finden“, meint Pia. „So viele Sträucher wachsen hier und stachelige Ranken.“
„Und alles ist voller Steine“, sagt Pit. „Vielleicht hat sich der Engel in einen Stein verwandelt?“
„Wer weiß?“, sagt Opa. „In der Weihnachtszeit ist alles möglich. Und vielleicht verwandeln sich auch Steine in Engel?“
„Das wäre toll!“, ruft Pia. Dann macht sie sich ans Suchen. Mutig krabbelt sie unter die dichte Wildrosenhecke mit den spitzen Stacheln und den Hagebutten, die ein kleines Schneehütchen tragen. Dort tastet sie sich von einem Stein zum anderen.
„Wo bist du, kleiner Engel aus Stein?“, flüstert sie. „Wo bist du?“
Plötzlich glaubt sie so etwas wie ein leises „Hier! Hier bin ich!“ zu hören.
Wer hat da gerufen? Träumt sie das nur?
Da tastet ihre suchende Hand über einen Stein, der sich wie ein Gesicht anfühlt, genauer gesagt wie ein Stein mit einem Mund, einer kleinen spitzen Nase und zwei Augen.
„Der Engel! Juchhu! Ich habe den Engel gefunden.“
Jubelnd ruft Pia ihren Bruder, die Großtante und Opa herbei, und dann dauert es nicht mehr lange, bis sie den kleinen Engel, der unter Dornenranken versteckt sitzt und eine grüne Farbe von Schmutz, Algen und Flechten hat, befreit haben.
„Der Engel! Er ist es“, freut sich die Großtante und ihr Freudenlächeln strahlt bis zu ihren Augen hinauf. „Nun ist alles gut. Nun kann Weihnachten kommen.“
Sorgsam säubern sie den kleinen Engel und entfernen Äste, Zweige, Gräser und Steine, die ihm sein dunkles Versteck ‚gebaut‘ haben. Dann machen sie sich mit einem „Auf bald! Wir kommen wieder!“ auf den Heimweg. Es dämmert schon. Die Tannenzweige haben sie vergessen … aber das ist eine neue Geschichte.
© Elke Bräunling
Und was es mit diesem Engel, den Pia und Pit mit Opa und Großtante Luise suchen, ein so wichtiger und ein so besonderer Engel, ein Schutzengel (?) ist, der viele Leben gerettet hat, auf sich hat, kannst du hier in dieser Geschichte nachlesen:
Erinnerung an einen Engel